Erinnerungsmosaik – Wie wir mit Gegenständen, Gefühlen und dem Wetter dem Zeitgeist auf die Spur gekommen sind
- Linn L.
- 23. Jan.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Juli
Wie bringt man zwei Generationen dazu, einander wirklich zuzuhören? Also nicht so: „Ich erzähl mal was, und du nickst“, sondern: Ich versuch dir zu zeigen, wie sich mein Leben angefühlt hat – und du lässt das mal auf dich wirken. Genau das war die Idee hinter dem ersten TimeTalks-Workshop „Erinnerungsmosaik“.
Bevor es richtig losging, wurden im Raum noch ein paar Gesprächsregeln festgelegt. Nicht als starres Regelwerk, sondern eher als Einladung zur Achtsamkeit: Zuhören, ohne sofort zu bewerten. Erzählen, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Nachfragen, wenn man etwas nicht versteht. Es ging darum, einen geschützten Raum zu schaffen – für Erinnerungen, Unsicherheiten, Emotionen. Und genau das hat man gespürt: Die Gespräche waren ehrlich, manchmal tastend, aber immer respektvoll.
Der Einstieg: Ein Korb voller Geschichten
Auf dem Boden lag ein wilder Haufen Alltagsgegenstände: Schallplatten, Kartenspiele, Kerzen, Taschentücher, alte Fotoapparate. Die älteren Teilnehmende sollten sich einen Gegenstand greifen und dazu eine Geschichte aus ihrer Jugend erzählen. Die jüngeren hörten erstmal nur zu. Es war leise. Und intensiv.
Die Idee: Erinnerungen aktivieren. Stimmung erzeugen. Zeitreisen starten. Und: mit etwas Konkretem anfangen. Denn ein Kochlöffel oder ein Portemonnaie weckt manchmal mehr aus der Vergangenheit, als man glaubt. Die Gegenstände haben nicht einfach nur Erinnerungen ausgelöst – sie haben sie verkörpert. Und wer etwas in der Hand hält, erzählt oft anders. Persönlicher. Unvermittelter.

Die Methode: Erinnerung trifft Wetterbericht
Danach wurde es bildhaft. In kleinen Gruppen arbeiteten die Älteren gemeinsam mit Jüngeren an einem Bild der Erinnerung – inklusive Gefühlslage. Das Ziel war, den Zeitgeist, in dem die eigene Geschichte passiert war, als Wetterlage darzustellen. Also nicht: „1978 war ich traurig“, sondern: „Über meinem Gefühl hing eine graue Regenwolke, aber irgendwie hat es auch geblitzt, weil ich mich stark gefühlt hab.“ Das Wetter wurde zur Sprache, wenn Worte fehlten. Ein Umweg, der oft direkter traf als jede Erklärung. Denn wer den Zeitgeist nicht kennt, kann ihn trotzdem fühlen – wenn er gut beschrieben ist.
Ein Teilnehmer erzählte zum Beispiel von einem Graffiti, das er als Jugendlicher in den frühen Achtzigern gemalt hatte. Die Szene: Regenwolken, Kälte, aber auch so eine Art rebellische Energie. „Ich hab das halt auf Übel gemacht“, sagt er. Und meint damit: provokant, trotzig, ungebremst. Unbesiegbar und allein zugleich. Die Angst, dass „jederzeit alles knallen kann“, hing in der Luft – Kalter Krieg, Zukunftsangst, aber auch der Wille, es anders zu machen. Auf die Karte schrieb er: „Selbstermächtigung, alternative Lebensformen, politisches Engagement. Angst allein macht nicht glücklich.“

Die Reflexion: Wo warst du im Bild?
Am Ende stand die große Frage: Wie funktioniert meine Geschichte in meiner Zeit? War das, was ich erlebt habe, gegen den Zeitgeist? Oder durch ihn überhaupt erst möglich? Die Teilnehmenden positionierten sich im Bild – auf einer Wiese, unter der Sonne, oder nah an einem Vulkan, je nach Gefühl. Und dann wurde das Bild gemeinsam ergänzt: Erinnerung + Zeitgeist. Persönliches + Systemisches. Was vorher im Einzelnen begann, wurde nun in Beziehung gesetzt – zwischen Generationen, Erfahrungen, Stimmungen.
Alles wurde auf Karten notiert. Es war kein reines Gespräch, eher ein Rundgang durch geteilte Innenwelten.

Und dann?
In der Workshop-Situation stellten die Gruppen ihre Ergebnisse vor – oft eher still, fast andächtig. Die jüngeren Teilnehmenden hatten einen Interviewbogen, mit dem sie mitschreiben und dokumentieren konnten. Es ging nicht darum, sofort alles zu verstehen – sondern darum, sich darauf einzulassen, was andere erlebt und gefühlt haben. Das Fragenstellen wurde zur Methode der Annäherung – mit Abstand, aber nicht distanziert.
Was bleibt? Vielleicht das: Man kann nicht über Generationen reden, ohne ihnen Raum zu geben. Und manchmal reicht ein Kartenspiel oder eine Schallplatte, um ganze Jahrzehnte neu zu sehen. Das „Erinnerungsmosaik“ war mehr als ein Einstieg – es war ein Schlüssel.

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